26 Buchstaben – eine andere Welt
Interview mit Peter-Härtling-Preisträger Tobias Wagner
Das Interview führten die Literaturscouts Sarah und Miruna
Am 25. Mai fand die Verleihung des Peter-Härtling Preises 2025 als erste Veranstaltung im neuen Verlagshaus BELTZ in Weinheim statt. Mit dabei wir Heidelberger Literaturscouts!
Der Peter-Härtling-Preis wird seit 1984 alle zwei Jahre für unveröffentlichte Kinder- und Jugendbuchmanuskripte verliehen. Dieses Jahr ging die mit 3000.- Euro dotierte Auszeichnung an
Tobias Wagner und sein neues Buch Death in Brachstedt.
Der Jugendroman handelt von Leo, einem 15-Jährigen, und seinem zunehmend verwirrtem Vater. Als dieser eines Tages spurlos verschwindet, nutzt Leo die Gelegenheit, endlich einmal nur ein normaler Jugendlicher zu sein. Zusammen mit seinem besten Freund Henri, verbringt er eine aufregende Woche voller neuen Erfahrungen. Sie drehen den Kurzfilm “Death in Brachstedt”. Dazu erlebt Leo in dieser Woche auch ein paar seiner “Ersten Male”, wie seine erste Party (ohne Kuchen und Geschenke) und das Gefühl wirklich auf sich gestellt zu sein. Er taucht in all diese Erlebnisse kopfüber ein und ignoriert den ständigen Gedanken an eine sich anbahnenden Katastrophe mit seinem Vater.
Sarah und ich, Miruna, hatten nach der Preisverleihung die besondere Gelegenheit, die tollen, neuen Verlagsräume zu besichtigen und ein Interview mit Preisträger Tobias Wagner zu führen.
Sarah: Du hast jetzt mit Death in Brachstedt dein erstes Buch veröffentlicht. Aber hast Du schon früher geschrieben, seit der Kindheit vielleicht? Woher stammen die Ursprünge Deines Schreibens?
Tobias Wagner: Ich habe tatsächlich als Kind geschrieben, insbesondere Gedichte. Ich habe sogar eins Zuhause, das habe ich geschrieben, als ich elf Jahre alt war. Das ist aber nicht für die Veröffentlichung gedacht. Später habe ich auch kleine Geschichten geschrieben. Im Studium habe ich auch mal versucht Theatertexte zu schreiben, aber es ist alles in der Schublade gelandet. Das Erste, was jetzt veröffentlicht ist, ist Death in Brachstedt.
Sarah: Und woher kommt Deine Motivation zum Schreiben? Was inspiriert Dich?
Tobias Wagner: Ich liebe Bücher. Ich finde es nach wie vor faszinierend, wie diese 26 Buchstaben in den verschiedensten Zusammensetzungen ein 200-Seiten Buch ergeben können, das mich dann in eine andere Welt zieht, mich raus aus meinem Leben nimmt und in ganz andere Situationen versetzt. Das ist für mich immer noch ein faszinierender Vorgang — und irgendwann habe ich mir gedacht, es wäre das allergrößte, wenn ich es selber mal schaffen würde, einen Roman zu schreiben, bei dem das bei anderen Lesern und Leserinnen auch klappt. Und das ist wirklich passiert, Wahnsinn.
Sarah: Das hat sehr gut geklappt, wie wir finden! Speziell zu Death in Brachstedt: was war dafür Deine Inspirationsquelle? Finden sich in dem Buch vielleicht Begebenheit aus Deiner eigenen Kindheit wieder?
Tobias Wagner: Mein erster Anspruch war, dass zwei Jugendliche — Jungs, weil ich mich besser mit ihnen identifizieren kann — Zeit haben, Blödsinn zu machen. Und dafür muss man sich erstmal eine
Geschichte drumherum ausdenken. Was ist mit den Eltern? Wieso sind sie unbeaufsichtigt?
Also habe ich mir gedacht, ein Elternteil ist schon nicht mehr da, und beim zweiten
Elternteil habe ich dann die Demenzerkrankung genommen, weil wir in der Familie auch einen Demenzfall haben. Ich weiß, wie tragisch das ist für eine Familie und teilweise auch wie komisch, wenn sich jemand einfach verrückt verhält.
Sarah: Gibt es auch ein literarisches Werk, das Dich inspiriert hat?
Tobias Wagner: Tschick von Wolfgang Herrndorf. Ich habe mein Leben lang ganz viel gelesen, aber
nach dem Studium der Literaturwissenschaft war ich völlig erschöpft, da wir unglaublich viel lesen
mussten. So kam es dazu, dass ich zwei Jahre lang nichts gelesen habe. Ich bin rumgereist und
habe einfach mal eine Pause gemacht, was für mich wirklich verrückt war, das kannte ich gar nicht. Tschick war dann das erste Buch, das mir jemand empfohlen hatte, nämlich meine Schwester. Als ich es gelesen habe, habe ich gemerkt, dass ich das Lesen vermisst hatte. Aber dann habe ich auch festgestellt: insbesondere dieses Buch ist richtig fantastisch erzählt. Dieser Schriftsteller mit dieser Sprache ist etwas ganz Besonderes.
Miruna: Dein Roman wurde von der Jury mit den Worten beschrieben: „Wie in einem perfekten Film stimmt bis hin zum Ton alles“ — eine wirklich tolle Beschreibung — hast Du Death in Brachstedt erstmal geplant oder hast du einfach drauflos geschrieben?
Tobias Wagner: Ich habe mir tatsächlich erstmal kleine Erzählinseln geschaffen. Eine war zum Beispiel die „Henri-Insel“ — wo kommt Henri her? Was ist mit seiner Familie? Dann habe ich ganz viel über die Dreharbeiten geschrieben und irgendwann habe ich mir gedacht „die haben ja einen Film gedreht, ich muss auch ein Kapitel machen, wo ich mir den Film ausdenke“. Und dann noch die Geschichte mit dem Vater, die ja die ganze Zeit so im Hintergrund abläuft. Am Ende habe ich dann alle Inseln miteinander verbunden und dann ergab sich sozusagen diese große „Landkarte“, diese große Geschichte.
Miruna: Wie lange hat es ungefähr gedauert, bis Du das Buch fertig geschrieben hast und es vom
Lektorat geprüft wurde?
Tobias Wagner: Vom ersten Wort bis zum fertigen Buch: acht Jahre. In den acht Jahren habe ich aber
nicht immer intensiv an diesem Buch gearbeitet, es gab immer wieder Zeiten, an denen ich mehr
bzw. weniger daran geschrieben habe. Aber von der Idee bis zur Umsetzung waren es acht Jahre.
Miruna: Wow, Wahnsinn.
Tobias Wagner: Ich hätte auch nie gedacht, dass ich jemals die Geduld haben würde, ein Projekt über
ganze acht Jahre zu begleiten.
Miruna: Glaubst Du, dass, insbesondere bei einem so langen Schreibprozess, Dein tägliches
Leben auch in das Buch mit eingeflossen ist?
Tobias Wagner: Auf jeden Fall. Wie ich auf Menschen zugehe, wie ich Menschen beobachte und wie
merkwürdig sich manche Erwachsene oder Jugendliche verhalten, das alles ist auf jeden Fall mit
eingeflossen. Im Buch sind ganz viele Beobachtungen von Menschen, die ich gut kenne mit drin, aber auch von fremden Menschen auf der Straße.
Sarah: In Deinem Buch teaserst Du ganz viele Handlungsstränge an, die man vielleicht nicht alle so versteht, zum Beispiel als Leo in diesem Pausenraum eingesperrt wird oder die große
Spende, die der Vater erhält. Hast Du da eine Auflösung für Dich oder bist Du auch quasi ein
Außenstehender der Geschichte?
Tobias Wagner: In meinem Kopf habe ich die Auflösung — diese Geldspende existiert tatsächlich nur in der Phantasie des Vaters und die Passage im Bahnhof, in der Leo von diesem verrückten Sicherheitsmann der Deutschen Bahn eingesperrt wird, ist sicherlich ein bisschen dramatisch überspitzt, aber ich wollte damit klarmachen, dass wir Erwachsene eine Vorbildfunktion gegenüber Jugendlichen haben, und dass wir ihnen fair, offen und gleichberechtigt begegnen sollten. Wir sollten sie nicht verurteilen oder unsere eigenen Vorstellungen durchsetzen und sie damit in Bedrängnis bringen. Und ich wollte in dem Buch einfach auch Erwachsene drin haben, die sich echt schräg verhalten.
Sarah: Und das Geheimnis von 72?
Tobias Wagner: Das weiß ich tatsächlich auch nicht. Ich wollte ein Geheimnis drin haben, das mysteriös klingt, sich aber nie auflöst. Die 42 ist, seit Per Anhalter durch die Galaxis schon besetzt, daher habe ich die 72 genommen, das Jahr des Anschlags bei den Olympischen Spielen, um damit etwas aufzumachen, ohne dass man weiß, wohin das eigentlich führt. Im Leben gibt es ja auch manchmal Rätsel, die nie aufgelöst werden.
Miruna: Ich bin mir sicher, dass viele Leserinnen und Leser ihre Theorien dazu entwickeln werden, was es mit der 72 auf sich hat. Jetzt eine ganz andere Frage: Preisträger des Peter-Härtling-Preises waren zum Beispiel Salah Naoura, Antje Herden und Juliane Pickel, die große Autoren und Autorinnen unserer Zeit sind. Wie fühlt es sich für Dich an, ein Teil dieser besonderen Gruppe zu sein?
Tobias Wagner: Das ist für mich immer noch ein sehr neues Gefühl. Auch zu sagen „ich
bin Schriftsteller“ fällt mir total schwer. Ich habe nur ein Buch geschrieben, das jetzt sogar
ausgezeichnet wurde, was großartig ist. Ich schreibe jetzt auch an einem neuen größeren Text, aber es ist immer noch ziemlich ungewohnt für mich, zusammen mit solchen großen Namen genannt zu werden. Es ist auf jeden Fall sehr besonders.
Miruna: Zum Abschluss: Was wäre ein Ratschlag, den Du jungen Autorinnen und Autoren mitgeben würdest?
Tobias Wagner: Wenn man selbst schreibt: immer hinausgehen und es den Menschen zeigen, mit ihnen darüber sprechen — vor allem mit Menschen, die auch selbst schreiben. Man glaubt es gar nicht, wie viele Menschen Gedichte oder einen angefangenen Roman in der Schublade liegen haben.
Mich mit Menschen zusammen zu setzen, mich mit ihnen auszutauschen und mit ihnen über mein Buch zu reden, das waren für mich die schönsten Momente im Entstehungsprozess dieses Buches. Wenn man leidenschaftlich dahintersteht und auf andere trifft, die das auch so empfinden, macht das am meisten Spaß.
Sarah & Miruna: Ganz herzlichen Dank für dieses Interview, viel Glück weiterhin und herzlichen Glückwunsch nochmal zum Peter-Härtling-Preis!
Ausgezeichnetes Debüt:
Death in Brachstedt von Tobias Wagner
Verlag Beltz & Gelberg, 2025
208 Seiten, ab 14 Jahren